Die Radikalisierung ist ein schleichender Prozess, der durch die Algorithmen der Social Media Kanäle verstärkt wird.

Na, heute schon etwas radikaler geworden?

Die Radikalisierung, die wir in unserer Gesellschaft erleben hat zum Großteil auch mit Social Media zu tun und wie diese Werkzeuge unser Bewusstsein und unseren Medienkonsum nachhaltig verändert haben.

Nein, Social Media ist nicht Schuld an der Radikalisierung und noch weniger verantwortlich dafür. Dass ist schon jeder einzelne von uns. Allerdings geschieht Radikalisierung über Social Media oft ohne dass wir wissen, was da gerade mit uns passiert. Und deshalb sind radikalisierte Menschen oft die letzten, die merken und sich eingestehen, dass sie sich verändert haben.

Und nein, Radikalisierung ist auch kein Thema, dass hauptsächlich junge Menschen betrifft. Tatsächlich sind sich die Native Users der Gefahren und der Macht dieser Algorithmen oft eher bewusst als wir ältere.

Ein Beispiel, dass ich erlebt habe, mich sehr bewegt hat und das mich zu diesem Artikel motiviert hat, ist das einer erwachsenen Frau, der es finanziell gut geht, die ein „normales“, glückliches Leben führt, eine liebevolle Familie hat und eine gute Bildung genossen hat. Sie ist eine Mutter von zwei tollen Söhnen, die immer bekannt dafür war, sehr freundlich und offen zu sein. Immer fröhlich, gastfreundschaftlich und mit einem großen und diversen Freundeskreis und aktives Mitglied der Nachbarschaft. Ein Herz von einem Menschen.

Vor etwa zwei Jahren begann sie aktiv Social Media Content zu produzieren. Ihr Thema war das Kochen. Darin ist sie unglaublich gut. Sie startete mit Posts und Stories auf Instagram und TikTok zu Rezepten, die sie von ihrer Familie geerbt hatte. Es war lustig, gut gemacht und unterhaltsam. Und es lief eigentlich ganz gut. Vor einigen Monaten bemerkte ich, dass sie bei Ihren Posts anfing biblische Themen hinzuzufügen. Sie begann sich bei Gott zu bedanken und Jesus zu zitieren, während sie ihre Gerichte kochte. Ich dachte mir anfangs nichts dabei, da es ja ihr Kanal war, auf dem sie den Content produzieren kann, den sie möchte.

Irgendwann kippten die Inhalte jedoch nur noch in die Richtung christlicher Glaube und Bibelzitate. Immer weniger ging es ums Kochen und Rezepte, immer mehr ging es darum, wie wir wirklich glücklich sein können und ein sinnvolles Leben führen können. Aus Zitaten wurden Empfehlungen, Regeln und Vorgaben. Anfangs noch freundlich und offen, aber auch das kippte innerhalb von Wochen in eine ungesunde Richtung. Die Beiträge wurden irgendwann extrem, radikal, homophob und sogar beleidigend gegenüber Menschen, die nicht mehr ihrem immer kleiner werdenden Menschenbild entsprachen. Ich war echt schockiert.

Da ich wissen wollte, wo das plötzlich herkam, habe ich mir ihre Social Media Kanäle angesehen und geprüft, wem sie selbst so alles folgt. Plötzlich waren da einige radikal-religiöse Prediger aus den USA und Südamerika, denen sie folgte und deren polarisierende und gefährliche Inhalte ohne Überprüfung des Wahrheitsgehalts von ihr geteilt wurden. Schließlich passierte das, was bei radikalisierten Personen häufig passiert. Zunächst habe ich versucht mit ihr darüber zu sprechen. Nachdem ich sie jedoch darauf hingewiesen habe, wie sie sich verändert hat und auch auf klare Falschmeldungen gezeigt habe, die sie ungefiltert verbreitet, wurde ich gelöscht und geblockt. Den Kontakt hat sie abgebrochen. In ihrer Bubble war kein Platz mehr für mich.

Kennen Sie diese Nachrichten, wo jemand etwas sehr schlimmes tut und die Nachbarn dann völlig verwundert sagen „aber er war doch so ein freundlicher und netter Typ“? Genau dieses Gefühl habe ich jetzt bei ihr. Ich habe in meiner langjährigen Erfahrung im Bereich Social Media schon viele Fälle erlebt, wo Radikalisierung – politisch und religiös – vorgekommen ist. Diese dunkle Seite von Social Media ist auch ein Teil in meinen Schulungen und Vorträgen. Es aber selbst bei jemandem zu erleben, der einem nahesteht und dabei zu erkennen, welche Dynamik und Geschwindigkeit so ein Radikalisierungsprozess hat, ist auch für mich erschreckend beeindruckend.

Wenn wir die Prozesse der Algorithmen auf Social Media, egal ob Instagram, LinkedIn, Facebook, X, TikTok oder SnapChat, nicht verstehen, erkennen und selbst steuern, entsteht eine Wirklichkeits-Blase, eine „Bubble“, die uns beeinflusst und verändert. Oft unerkannt und unbemerkt. Die Algorithmen sind dafür nicht verantwortlich. Denen ist es schnurzegal was in unserem Gehirn passiert. So wie Alkohol nicht verantwortlich für unseren Rausch ist und die Waffe per se nicht verantwortlich für den Mord ist. Wir sind selbst verantwortlich, für die Wirklichkeitsblase die wir uns selbst erschaffen. Der Algorithmus wird uns nur immer mehr von dem geben, was wir wollen, was uns interessiert und was uns beschäftigt. Social Media ist unser Dopamin-Dealer mit unendlichen Ressourcen unserer eigenen Droge. Der Preis für unsere Droge ist unsere Meinung, unsere Einstellung, unsere Werte und unsere Normen. Mit denen bezahlen wir für den kurzen Social Media Kick.

Da die Entwicklung in der Kommunikation nicht zurückgeht, ist es wichtig, dass wir lernen, uns aufklären und uns auch regelmäßig selbst reflektieren und hinterfragen. Eine Geschäftsführerin schimpfte vor kurzem über die Inhalte bei LinkedIn. Sie würde nur noch den gleichen „Mist“ sehen und nur von den Menschen die sie eh schon kennt Inhalte bekommen, die sie nicht interessieren. Nach einem kurzen Check Ihres Kanals und ihres Surf-Verhaltens wurde ihr bewusst, dass sie selbst zum großen Teil dafür verantwortlich war, was der Kanal ihr ausspielt. Aus einem hilflosen „ich habe keine Kontrolle“ wurde ein „OK. Ich kann das selbst steuern und habe eine gewisse Kontrolle“.

Welche Prozesse und Veränderungen finden während eines Radikalisierungsprozesses in unserem Gehirn und unserem Bewusstsein statt? Warum sind wir so vulnerabel, wenn es um Radikalisierung geht? Hier stichpunktartig einige Informationen, die einen groben Überblick darüber geben sollen, was da oben bei uns manchmal falsch läuft.

1. Kognitive Verzerrungen und Bestätigungsfehler

  • Menschen neigen dazu, Informationen zu suchen und zu bevorzugen, die ihre bereits bestehenden Überzeugungen und Meinungen (nicht Tatsachen) bestätigen.
  • Algorithmen von Social Media verstärken diesen Effekt, indem sie ähnliche Inhalte immer wieder vorschlagen.

2. Bubbles und Wirklichkeits-Blasen

  • Nutzer werden oft in Gruppen und Gemeinschaften hineingezogen, die ihre Ansichten teilen und verstärken.
  • Diese Bubbles und Wirklichkeits-Blasen isolieren Nutzer von konträren Meinungen, was die Radikalisierung fördert und vorantreibt.

3. Emotionale Resonanz

  • Emotionen spielen eine Schlüsselrolle bei der Informationsverarbeitung.
  • Negative Inhalte, die starke emotionale Reaktionen hervorrufen (Wut, Angst, Empörung), werden eher geteilt und gesehen.
  • Diese emotional aufgeladenen Inhalte können radikale Ansichten verstärken.
  • Die Fähigkeit zur Selbstreflexion sinkt diametral konträr.

4. Gruppenzugehörigkeit und soziale Identität

  • Menschen haben ein tiefes Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Akzeptanz in Gruppen.
  • Radikale Gruppen bieten eine starke soziale Identität und ein Gefühl der Gemeinschaft, was Menschen anzieht.

5. Indoktrination und Wiederholung

  • Wiederholte Exposition gegenüber extremistischen Inhalten kann zu einer Normalisierung dieser Ansichten führen.
  • Kontinuierliche Indoktrination verstärkt die Überzeugungen und reduziert kritisches Denken.
  • „Eine Lüge muss nur oft genug wiederholt werden. Dann wird sie geglaubt.“ (Paul Joseph Goebbels)

6. Kognitive Dissonanz

  • Menschen vermeiden Unstimmigkeiten zwischen ihren Überzeugungen und ihren Handlungen.
  • Social Media kann dazu führen, dass Nutzer ihre Ansichten an radikalere Inhalte anpassen, um kognitive Dissonanz zu vermeiden.
  • Typische Sätze: „Ich bin doch kein Rassist. Ich habe so viele ausländische Freunde“. „Das ist nicht meine Meinung. Das sagt Gott!“

Wie verstärken die Algorithmen der Social Media Kanäle diesen Prozess?

1. Personalisierte Inhalte

  • Algorithmen analysieren das Nutzerverhalten und bieten personalisierte Inhalte an, die das Engagement maximieren sollen.
  • Der Algorithmus hat nur ein Ziel: Dass der User so lange auf der Plattform bleibt wie möglich. Deshalb generiert er ganz individuell auf die Wünsche des Nutzers zugeschnittene Inhalte.
  • Dies führt zu einer Verstärkung bestehender Ansichten und kann radikales Denken fördern.

2. Clickbait und Sensationalismus

  • Algorithmen bevorzugen Inhalte, die hohe Klickzahlen und Interaktionen generieren.
  • Sensationelle, negative und oft radikale Headlines und Inhalte erhalten mehr Clicks und Aufmerksamkeit, was zur Verbreitung extremistischer Ansichten beiträgt.
  • Große Medienunternehmen nutzen häufig Clickbait (siehe die Radikalisierung des FOCUS-Magazins oder der Headline-Sprache der BILD) und verstärken den Effekt dadurch noch weiter.

3. Virale Verbreitung

  • Negative, extreme und provokante Inhalte, die oft geteilt und geliked werden, verbreiten sich schneller und erreichen ein größeres Publikum.
  • Radikale und oft bewusst falsche Inhalte können so schnell eine große Reichweite erzielen.

4. Monetarisierung durch Engagement

  • Plattformen verdienen Geld durch Werbung, die auf Nutzerengagement und Interaktionen basiert.
  • Mehr Interaktionen bedeutet mehr Werbung und höhere Einnahmen
  • Negative, provokante und oft falsche Informationen verursachen mehr Interaktionen als positive, sachliche und echte Informationen, was die Verbreitung von extremen Inhalten weiter antreibt.

Nicht einfach, aber machbar

Die Radikalisierung auf Social Media ist ein komplexer Prozess, der durch kognitive Verzerrungen, emotionale Resonanz und soziale Identität verstärkt wird. Jeder von uns, wirklich jeder, kann davon betroffen sein, wenn wir nicht aufpassen.

Viele Trends, wie die der Talahons und der rechtsradikalen Gesänge, entstehen auf Social Media und verstärken sich dort. Leider gehört aber auch zum Thema, dass es vor allem die radikalen Ränder sind – rechts wie links, religiös oder verschwörerisch – die Social Media am effektivsten nutzen. Die große Mehrheit, die Vernünftigen, die Gemäßigten, die Positiven, die Humanisten, die Sachlichen und all die anderen liberalen und demokratischen Menschen sehen dem Treiben oft in ihrer Überforderung nur zu. Und das ist für eine Gesellschaft gefährlich.

Es braucht nur einen Zündler mit einem Streichholz, um einen ganzen Wald abzufackeln. Dank Social Media und dem Radikalisierungsbooster der Algorithmen gibt es zur Zeit Tausende, die sich mit Flammenwerfern unserem schönen Wald nähern. Alle in ihrer kleinen, radikalen Wirklichkeits-Blase in der nur sie, ihre Meinung und ihr klitzekleines Welt- und Menschenbild Platz hat.

Die Algorithmen der Plattformen spielen eine entscheidende Rolle bei der Radikalisierung, indem sie personalisierte und emotionale Inhalte bevorzugen, die das Engagement maximieren. Es ist deshalb wichtig, dass Nutzer sich dieser Mechanismen bewusst sind und kritisch mit den Inhalten umgehen, die sie konsumieren und teilen.

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